Cover
Titel
Institution Lager. Theorien, globale Fallstudien und Komparabilität


Herausgeber
Bochmann, Annett; Fischer von Weikersthal, Felicitas
Erschienen
Frankfurt am Main 2023: Campus Verlag
Anzahl Seiten
446 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bertrand Perz, Institut für Zeitgeschichte, Universität Wien

Historische und sozialwissenschaftlichen Forschungen zu Lagern sind nicht neu. In der Geschichtswissenschaft wurden verschiedene Typen von Lagern aber lange getrennt voneinander untersucht, und es wurde wenig nach Gemeinsamkeiten gefragt. Für einen systematischen Vergleich von Lagern fehlten oft nicht nur empirische Befunde, sondern die jeweiligen Lagerwelten erschienen zu heterogen. Inzwischen hat sich das geändert, und für diesen jüngeren Forschungstrend steht auch der neue Sammelband „Institution Lager“.

Nicht zufällig kam mit Zygmunt Baumans Charakterisierung des 20. Jahrhunderts als „Jahrhundert der Lager“ der Versuch einer systematisierenden Betrachtung von Lagern als Massenphänomen nicht aus der Geschichtswissenschaft, sondern aus der Soziologie und Philosophie.1 Bauman verstand Lager sowie die rationalen und technologischen Voraussetzungen, die zu ihrem Funktionieren notwendig sind, als der Moderne inhärent; mit Blick auf Auschwitz kritisierte er jeden naiven Fortschrittsoptimismus. Baumans Topos aufgreifend, versuchten um die Jahrtausendwende die Historiker Joël Kotek und Pierre Rigoulot, eine Geschichte von Lagern im 20. Jahrhundert zu schreiben.2 Auch wenn sie dabei ausschließlich auf Exklusions- bzw. Repressionslager fokussierten, machte ihre Studie doch deutlich, wie sehr die Institution Lager das 20. Jahrhundert prägte (und wie man nun weiß, auch die Gegenwart prägt). In der Geschichtswissenschaft blieb Baumans Ansatz nicht unhinterfragt. So äußerte Ulrich Herbert mit Verweis auf die großen Unterschiede zwischen Lagern Skepsis gegenüber dem Erklärungswert eines universellen Lagerbegriffs.3

In den letzten beiden Jahrzehnten erlebte die Lagerforschung in den Sozial- wie Geschichtswissenschaften, aber auch in der Archäologie eine bemerkenswerte Konjunktur, die bis heute anhält. Die politischen Debatten um Lager, von den unzähligen Flüchtlingslagern bis zum „War on Terror“-Lager Guantanamo oder den Repressionslagern in China, haben die Forschung ebenso befördert wie wissenschaftsimmanente Entwicklungen, etwa globalgeschichtliche oder postkoloniale Ansätze. Für diese Konjunktur stehen zwei vor zehn Jahren erschienene geschichtswissenschaftliche Sammelbände, die unter den Aspekten Exklusion, Gewalt und soziale Kontrolle die Institution Lager im 20. Jahrhundert und mögliche Vorläufer in transnationaler Perspektive diskutierten.4 Weitgehend Konsens herrschte darüber, dass die Fokussierung auf Auschwitz und damit auf Lager als Orte extremer Gewalt und Massenvernichtung den Blick auf Lager als globales Phänomen mittlerweile eher verstellte. Seitdem sind fächerübergreifend nicht nur viele weitere Forschungsprojekte zu Lagern unternommen und Einzelstudien vorgelegt worden. Allein seit 2021 sind mindestens drei wichtige Sammelbände erschienen, wobei der Schwerpunkt vor allem auf dem politisch brisanten Thema der Flüchtlingslager liegt.5

Mit „Institution Lager“ liegt nun ein weiterer Sammelband vor, der durch seine Konzeption neue Perspektiven eröffnet.6 Das Besondere ist hier nicht die Tatsache, dass ein Dutzend global verteilter Fallstudien präsentiert wird. Die Stärken sind vielmehr die große Interdisziplinarität und der theoretische Zugriff der Beiträge, die darauf zielen, die bisher stark fragmentierte Lagerforschung zu synthetisieren. Der Anspruch des Bandes ist es, übergreifende Fragen und Phänomene zu diskutieren, dabei aber die funktionale wie empirische Heterogenität der Lagersysteme und -ordnungen nicht aus dem Blick zu verlieren. „Es gab und gibt weder das eine Lagersystem noch die eine Lagerordnung“, betonen die Herausgeberinnen (S. 9). Dennoch seien Macht, Herrschaft, Gewalt und Entmenschlichung der Institution Lager grundsätzlich inhärent. Und die Empirie zeige, dass sich aus der Perspektive unterschiedlicher Disziplinen gemeinsame Phänomene ausmachen ließen.

Die Herausgeberinnen schlagen dafür vier Perspektiven bzw. Themenfelder vor: Unter den Stichworten „Zwangs-/Schutz-/Erziehungsregime“ gehen sie davon aus, dass Lager dem Zweck der Isolierung von anhand bestimmter Zugehörigkeiten konstruierten Kollektiven dienen und sich nicht in erster Linie gegen Einzelpersonen richten. Dabei können eben Motive wie Zwang, Kontrolle und Strafe, aber auch Schutz und (Um-)Erziehung zugrunde liegen. Der zweite Zugriff diskutiert Lager unter der Perspektive von „Temporalität/Provisorium/Liminalität“. Lager sind von einer (begrenzten) Zeitlichkeit geprägt, die enorme Auswirkungen auf alle Bereiche hat, etwa die Unterkünfte und die Ausstattung. Allerdings tendieren viele Lager dazu, rechtsuneindeutige Dauereinrichtungen zu werden. Die dritte Perspektive unter der Überschrift „Materialität/Raum/Architektur“ fragt insbesondere nach der Bedeutung von Lagern für die Erfahrungswelt der eingeschlossenen Kollektive. Die machttechnische Ordnung des Raums, die inneren Zonierung der Lager wie der Außengrenzen, ihre Durchlässigkeit oder der Grad der Abschließung spielen dabei eine wesentliche Rolle. Die vierte Perspektive widmet sich unter der Überschrift „Subjektivität/Köper/Handlungsmacht“ den sozialen Praktiken, den Interaktionen bzw. Aushandlungsprozessen von Machtverhältnissen zwischen Lagerpersonal und Lagerinsass:innen.

In drei Aufsätzen werden zunächst theoretische wie methodische Fragen bezüglich der Vergleichbarkeit von Lagern thematisiert. Theoretische Zugänge aus soziologischer Sicht werden ebenso diskutiert wie die Potentiale komparatistischer Analysen aus archäologischer Perspektive sowie der Macht- und Skalentheorie der Geographie.

Die folgenden zwölf Fallstudien werden nicht den gängigen Einteilungskriterien in Lagertypen, Grad von Freiwilligkeit/Zwang oder Exklusion/Inklusion zugeordnet, sondern den genannten vier übergreifenden Perspektiven. Konzeptionell sind die Beiträge so angelegt, dass sie jeweils auf Großtheorien zu Lagerinstitutionen Bezug nehmen (u.a. von Giorgio Agamben, Erving Goffman, Michel Foucault, Hannah Arendt, Arnold van Gennep, Victor Turner) und deren Wert für das Verstehen von Lagerphänomenen und für Fragen der Vergleichbarkeit überprüfen. Deutlich wird in der überwiegenden Zahl der Beiträge der begrenzte Erklärungswert solcher Theorien. Insbesondere wird die Darstellung der Bewohner:innen oder Häftlinge der Lager als passive Empfänger:innen von Repression und Zwang kritisiert.

Wer selbst in der Lagerforschung tätig ist, findet in vielen Beiträgen wertvolle Anregungen – beispielhaft seien einige wenige genannt: Aus Sicht der Archäologie fragt Reinhard Bernbeck unter Verweis auf Henri Lefebvres Raumtheorie für unterschiedliche Lager nach der jeweiligen Relation zwischen von oben „geplantem“ und tatsächlich „gelebtem“, von alltäglichen Praktiken gestaltetem Raum. Die Auseinandersetzung mit Lagern europäischer Flüchtlinge aus Polen, Jugoslawien und Griechenland im kolonialen Afrika im Zweiten Weltkrieg (Jochen Lingelbach) ist wohl nicht nur für den Rezensenten ein bisher unbekanntes Terrain. Spannend daran ist die Fokussierung auf die unterschiedliche Agency der Lagerinsass:innen und ihre jeweiligen Ordnungsvorstellungen, die deutlich Agambens Verständnis von den „nackten“ Menschen des Lagers widerspricht, ebenso wie die rassistisch motivierte Sonderstellung „weißer“ Flüchtlinge in Kolonien und der Umgang internationaler Organisationen mit ihnen.

Für das tiefere Verständnis einer Lagergesellschaft und ihrer „Funktionshäftlinge“ liefert die Fallstudie des Internierungslagers Ruhleben für Briten im Ersten Weltkrieg (Christoph Jahr) wichtige Impulse. Die Kritik an Großtheorien zu Lagern wird besonders auch in dem Beitrag über mexikanische Migrations- und Haftlager (Julia Manek) deutlich. Für die differenzierende Analyse der biopolitischen Lagerherrschaft zieht die Autorin Rassismus, Geschlecht und Sexualität als Kriterien heran. Hilfreich für eine Fortführung der vergleichenden KZ- wie Gulag-Forschung ist die systematische Gegenüberstellung von Produktivität und Sterblichkeit in den beiden Lagersystemen (Marc Buggeln) und die damit verbundene Kritik am Konzept der „Terrorarbeit“ von Wolfgang Sofsky im Gefolge von Hannah Arendt, sind doch gerade in diesem Bereich zum Teil wenig faktengestützte Auffassungen im Umlauf.

Der Anspruch des Sammelbandes, die Vielfalt von Lagern in zeitlicher, geographischer wie funktionaler Perspektive zu repräsentieren, wird nicht ganz eingelöst. Warum sich von den zwölf Fallstudien mehr als eine auf die Sowjetunion bezieht, ist vermutlich nur aus dem Entstehungsprozess des Bandes zu erklären. Von den Lagertypen vermisst man die Kriegsgefangenenlager, und Integrationslager werden nur am Rande behandelt. Bis auf einen Beitrag stammen alle Aufsätze von Vertreter:innen deutscher Wissenschaftseinrichtungen, was in einem gewissen Widerspruch zur beanspruchten globalen Herangehensweise steht. Bei den übergreifenden Perspektiven fehlt die Ökonomie, geht es doch für eine ganze Reihe von Lagern (und auch in den versammelten Beiträgen) zentral um (Zwangs-)Arbeit bzw. um Arbeitsausbeutung. Auffällig ist vor allem das Fehlen einer Genderperspektive, die bei fast allen Beiträgen auf der Hand liegt. Hier wurde das vorhandene Potential nicht ausgeschöpft – man denke nur an die rezenten Studien zu einer queeren Lagergeschichte.

Eine Detailkritik sei angemerkt, weil es um einen weitverbreitete Fehldarstellung geht: Die Herausgeberinnen halten mit Bezug auf Kotek und Rigoulot fest, dass die NS-Vernichtungslager zur Ermordung der jüdischen Bevölkerung Europas (gemeint sind Belzec, Chelmno, Sobibor und Treblinka, nicht Auschwitz-Birkenau) aus der Betrachtung herausfallen, da sie keine lagerähnliche Infrastruktur aufgewiesen hätten (S. 12). Zwar wurden fast alle dorthin Deportierten nie in einem Lager untergebracht, weil sie unmittelbar nach der Ankunft durch Giftgas getötet wurden. Aber Hunderte als „Arbeitsjuden“ zur Beteiligung am Vernichtungsprozess gezwungene Deportierte lebten an diesen Orten zumindest mehrere Monate, bevor sie selbst getötet und durch neue Häftlinge ersetzt wurden. Die Aufstände in Sobibor und Treblinka waren Widerstandsaktionen der „Arbeitsjuden“ dieser Lager.

Die genannten Hinweise sollen den Gesamteindruck nicht verwischen, dass es sich bei dem vorliegenden Sammelband um einen wichtigen Input für die Lagerforschung handelt, der vor allem auch zeigt, welches Potential in einer theoriegeleiteten, Disziplingrenzen überschreitenden Herangehensweise steckt. Der Band wird sicher nicht der letzte in diesem dynamischen Forschungsfeld sein, aber künftige Publikationen zum Thema werden sich an den Standards, die darin gesetzt sind, messen lassen müssen.

Anmerkungen:
1 Zygmunt Bauman, Das Jahrhundert der Lager. Aus dem Englischen von Matthias Vetter, in: Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte 41,1 (1994), S. 28–37.
2 Joël Kotek / Pierre Rigoulot, Das Jahrhundert der Lager. Gefangenschaft, Zwangsarbeit, Vernichtung. Aus dem Französischen von Enrico Heinemann, Berlin 2001.
3 Ulrich Herbert, Das „Jahrhundert der Lager“: Ursachen, Erscheinungsformen, Auswirkungen, in: Peter Reif-Spirek / Bodo Ritscher (Hrsg.), Speziallager in der SBZ. Gedenkstätten mit „doppelter Vergangenheit“, Berlin 1999, S. 11–19.
4 Siehe meine Sammelrezension zu: Bettina Greiner / Alan Kramer (Hrsg.), Welt der Lager. Zur „Erfolgsgeschichte“ einer Institution, Hamburg 2013, und Christoph Jahr / Jens Thiel (Hrsg.), Lager vor Auschwitz. Gewalt und Integration im 20. Jahrhundert, Berlin 2013, in: H-Soz-Kult, 22.05.2014, https://www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-19975 (29.09.2023).
5 Julia Devlin / Tanja Evers / Simon Goebel (Hrsg.), Praktiken der (Im-)Mobilisierung. Lager, Sammelunterkünfte und Ankerzentren im Kontext von Asylregimen, Bielefeld 2021, https://doi.org/10.14361/9783839452028 (29.09.2023); Oliver Razum / Agnes Dawson / Lisa Eckenwiler / Verina Wild (Hrsg.), Refugee Camps in Europe and Australia. An Interdisciplinary Critique, Cham 2022; Gabriele Anderl / Linda Erker / Christoph Reinprecht (Hrsg.), Internment Refugee Camps. Historical and Contemporary Perspectives, Bielefeld 2023, https://doi.org/10.14361/9783839459270 (29.09.2023).
6 Einige der angesprochenen Aspekte fanden sich schon in folgendem Themenheft: zeitgeschichte 45,4 (2018): Reflections on Camps – Space, Agency, Materiality, hrsg. von Antje Senarclens de Grancy und Heidrun Zettelbauer.